Kolonialstile: Verschmelzung künstlerischer Traditionen

Kolonialstile: Verschmelzung künstlerischer Traditionen
Kolonialstile: Verschmelzung künstlerischer Traditionen
 
Die Baukunst in den Kolonialgebieten Mittel- und Südamerikas wurde vorwiegend von der künstlerischen Entwicklung in den europäischen Mutterländern - Spanien und Portugal - bestimmt. Dabei spielten jedoch klassische, streng tektonische Lösungen, die auf der Iberischen Halbinsel im 16. Jahrhundert etwa mit dem Palast Karls V. in Granada oder dem Königskloster El Escorial begründet worden waren, nur anfänglich eine gewisse Rolle. Auch der Einfluss der holländischen Baukunst im Norden Brasiliens in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts blieb Episode. Wesentlich charakteristischer für den Kolonialbarock sind dagegen überaus dekorationsreiche Bauten, deren Höhepunkt im Kirchenbau des 18. Jahrhunderts liegt. In vielfältigem Rückgriff auf die Traditionen der Hochkulturen Altamerikas kam es dabei zu unterschiedlichen regionalen Ausprägungen.
 
In den spanisch dominierten Gebieten Mittelamerikas, besonders in Mexiko, ist die Bindung an die jeweiligen Etappen der barocken Baukunst Spaniens deutlich zu erkennen. Markant sind hier besonders die reich gegliederten, um 1750 entstandenen Kirchenfassaden, etwa in Mexiko, Taxco de Alcarón oder Zacatecas. Ihr Dekorationsreichtum, für den der Begriff »Ultra-Barock« geprägt wurde, entspricht dem von José Churriguera geprägten Zeitstil in Spanien - etwa der Fassade der Kathedrale von Santiago de Compostela oder der Sakristei der Kartause von Granada -, gliedert aber auch Elemente der regionalen Formtradition mit ein.
 
Etwas vielschichtiger und in weniger strenger Bindung an die Architektur Portugals entwickelte sich die Baukunst in Brasilien. Eine in Quantität und Qualität erstaunliche Blüte erlebte der Sakralbau in der durch Diamanten- und Goldminen reich gewordenen Provinz Minas Gerais nördlich von Rio de Janeiro, wo sich im Laufe des 18. Jahrhunderts eine eigenständige regionale Bauschule herausbildete. Eine große Gruppe eng miteinander verwandter Kirchen in Ouro Prêto und São João del Rei wird dem einheimischen Mulatten Antônio Francisco Lisboa, genannt Aleijadinho, zugeschrieben, der zwischen 1760 und 1800 tätig war. Obwohl dieser Künstler vor allem als Bildhauer und Dekorateur ausgebildet war, geht wohl auch der Entwurf einiger dieser Bauten auf ihn zurück. Mehrfach finden sich ovale Raumformen; am Außenbau wird das Motiv der plastisch durchgegliederten Zweiturmfassade in immer neuen Variationen durchgespielt. Neben direkten Anregungen der Baukunst im Norden Portugals - in Porto oder Braga - dürften dabei auf verschlungenen Wegen auch Kenntnisse der süddeutschen Kirchenbaukunst des Spätbarock nach Brasilien gelangt sein. In wirkungsvollem Kontrast zur bewegten, aber doch klaren Tektonik der Fassaden stehen die reichen Dekorformen der Portale, die auch Kenntnisse der Ornamentik des europäischen Rokoko verraten; im Inneren wird das Raumbild durch die ausdrucksstarken Plastiken Aleijadinhos bereichert. Die regional ausgeprägte Eigenart und die künstlerische Qualität dieser Bauten werden besonders deutlich im Vergleich zu den Werken anderer portugiesischer Kolonien, etwa im indischen Goa.
 
Prof. Dr. Hellmut Lorenz
 
 
Bauer, Hermann: Barock. Kunst einer Epoche. Berlin 1992.
 
Die Kunst des Barock. Architektur, Skulptur, Malerei, herausgegeben von Rolf Toman. Köln 1997.
 
Die Kunst des 17. Jahrhunderts, bearbeitet von Erich Hubala. Beiträge von Per Bjurström u. a. Sonderausgabe Berlin 1990.
 Summerson, John: Die Architektur des 18. Jahrhunderts. Aus dem Englischen. Stuttgart 1987.

Universal-Lexikon. 2012.

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  • Kolonialstil — Ko|lo|ni|al|stil 〈m. 1; unz.〉 Abart des mutterländ. Baustils in den Kolonien, (bes.) Abart des engl. Klassizismus * * * Ko|lo|ni|al|stil, der <o. Pl.>: vom [britischen] Mutterland geprägter, klassizistischer Architekturstil in den… …   Universal-Lexikon

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